(gemeinsam mit Jacob Ulrich)
#Aufstehen statt sitzen bleiben: Kann eine Sammlungsbewegung den Parteien Beine machen?, VerfBlog, 2018/9/13, https://verfassungsblog.de/aufstehen-statt-sitzenbleiben-kann-eine-sammlungsbewegung-den-parteien-beine-machen/
Jeremy Corbyn, Emanuel Macron, Jean-Luc Mélenchon und nun Sahra Wagenknecht. Auf den ersten Blick könnten diese Charaktere unterschiedlicher nicht sein, aber sie alle eint, dass sie sich an die Spitze einer „Bewegung“ gestellt haben, das „Momentum“ in ihren Parteien nutzten, die Republik „en marche“ gesetzt haben, ein „unbeugsames Frankreich“ beschworen oder eben „aufgestanden“ sind. Sammlungsbewegungen sind hip. Und so unterschiedlich ihre Zielrichtungen sein mögen, sie alle spiegeln den Zeitgeist wider: Sie sind Kinder der Politikverdrossenheit in den westeuropäischen Gesellschaften. #aufstehen formuliert das sogar sehr deutlich: „Keine Politikerin, kein Politiker, keine Partei wird unsere Probleme lösen, wenn wir es nicht selbst tun.“
Haben sich die Parteien mittlerweile überlebt? Ist es an der Zeit, andere Formen des organisierten bürgerschaftlichen Engagements zu erproben, um den Motor unserer demokratischen Gesellschaft anzutreiben? Ist #aufstehen die Bewegung, die es dafür braucht? Hilft sie uns gar, einem alternativen Leitbild, das vielleicht ohne politische Parteien auskommt, näher zu kommen? Immerhin haben sich binnen weniger Monate angeblich über 100.000 Menschen für die Sammlungsbewegung interessiert, während die etablierten Parteien unter Mitgliederschwund leiden.
Brauchen wir noch politische Parteien?
„Doch, wir brauchen Parteien“, sagt zumindest #aufstehen. Die Bewegung will selbst keine Partei sein, sondern in die Parteien links der Mitte hineinwirken. Sie will nicht an Wahlen teilnehmen und erfüllt somit eine wesentliche Voraussetzung nicht, die § 2 Abs. 1 S. 1 PartG für die Parteieigenschaft verlangt. Auch der Aufstehen Trägerverein Sammlungsbewegung e.V. mit Sitz in Berlin hat keine Ambitionen Partei zu sein oder zu werden.
Gleichzeitig zeigt #aufstehen – vermutlich unbeabsichtigt – ein Paradox auf: Unsere Demokratie funktioniert nicht ohne die politischen Parteien, allerdings auch nicht so recht mit ihnen, denn sie sind es, mit denen viele der Krisensymptome der demokratischen Ordnung assoziiert werden (dazu Towfigh, Das Parteien-Paradox, S. 103 ff., 188 f.). Dem Leitbild legitimer politischer Herrschaft nach dem Grundgesetz liegt die Idee zu Grunde, dass Interessen durch Aggregation durchgesetzt werden: Die Demokratie wird damit zu einem Verfahren der Interessendurchsetzung durch Wahlen und Abstimmungen. Den politischen Parteien kommt die Aufgabe zu, den Diskurs zu strukturieren, den Informationsaufwand für den Einzelnen zu reduzieren und die Interessen ihrer Wähler*innen zu vertreten und durchzusetzen. Dabei gibt es zwangsläufig, auch im Kompromiss, Gewinner und Verlierer. Gleichzeitig liegt hierin die Gefahr einer Verfälschung der politischen Willensbildung, etwa durch die Verfolgung von Sondergruppeninteressen oder eine Orientierung an aktuellen Umfragewerten und Wahlkampfinteressen.
Setzte man dagegen darauf, die widerstreitenden Interessen auszugleichen, statt sie durchzusetzen, wären Politiker gefragt, die von den Parteien, aber auch von den Wählern, unabhängiger sind. Dies führte letztlich zu einer Schwächung der politischen Parteien, vielleicht sogar langfristig zu ihrer Entbehrlichkeit.
Aber kann eine solche Transformation des politischen Systems durch Sammlungsbewegungen gelingen? Dies muss wohl zumindest mit Blick auf #aufstehen mit Nein beantwortet werden. Denn #aufstehen will keinen Wandel des politischen Systems der Bundesrepublik an sich erreichen. Die Bewegung will im System wirken: Sie will Plattform für links-liberale Ideen sein, schreibt sich auf die (roten) Fahnen, Nachwuchstalente (gleichsam ohne „Ochsentour“ durch eine Partei) fördern und den Diskurs ihrer Unterstützer anregen zu wollen. Dazu kann man über das Tool Pol.is eigene Standpunkte teilen und die anderer bewerten (stimme zu, lehne ab, keine Meinung), außerdem sehen, wo man im Vergleich zu den anderen Mitdiskutierenden steht. Etwas mehr als 20.000 Menschen haben sich bisher daran beteiligt. Dies passt zum Zeitgeist, sich nicht in politischen Parteien zu engagieren, sondern außerhalb davon und meist auch nur auf bestimmte Themen bezogen, wie etwa jüngst die „Bürgerbewegung Finanzwende“, um Gerhard Schick und Martin Hellwig, gezeigt hat.
#aufstehen will keine von den politischen Parteien unabhängigeren Politiker hervorbringen, die politischen Parteien nicht entbehrlich machen. Die Bewegung will „Druck auf die Parteien ausüben [und] jene unterstützen, die für unsere Ziele in den Parteien streiten.“ Dabei gibt sich die Bewegung betont überparteilich. Vielleicht erreicht sie dadurch wirklich mehr Menschen, spricht jene an, die von den etablierten Parteien nicht mehr angesprochen werden, und setzt damit einen Gegenpol zu den rechtspopulistischen Protestbewegungen, die in Gestalt der AfD im Bundestag vertreten sind. Die Bewegung stellt aber keine Alternative zur Organisation der politischen Partei dar und will dies wohl auch nicht sein.
Warum also nicht Parteimitglied werden?
Was aber treibt nun die Menschen in die Arme einer Sammlungsbewegung anstatt in die von politischen Parteien? Der Mitgliederschwund der etablieren Parteien ist viel beschrieben und beschrien worden: Sieht man sich die Entwicklung der Mitgliederzahlen seit 1990 an, haben einzig die Grünen und die AfD Mitglieder hinzugewonnen. Freilich, dies mag eines der Symptome der allgemein vorherrschenden Politikverdrossenheit sein. Dennoch liegt nahe, dass es auch institutionelle Gründe gibt, welche das Engagement in politischen Parteien zunehmend uninteressant werden lassen. Das Grundgesetz fordert von den politischen Parteien demokratische Binnenstrukturen.
Im Wesentlichen bedeutet das, Entscheidungen müssen „von unten nach oben“ getroffen werden. Letztlich greifen aber auch innerhalb der Parteien die Mechanismen der Interessenaggregation: Wie von unsichtbarer Hand geleitet, treten Parteimitglieder und deren jeweilige Gemeinwohlvorstellungen und Antworten auf gesellschaftliche Fragen miteinander in einen freien und gleichen Wettbewerb — oder sollten das zumindest. In der Realität zeigen sich indes einige Hindernisse: Die von Parteigremien oder Binnenorganisationen protegierten Mitglieder haben höhere Erfolgsaussichten, innerparteiliche Wahlen zu gewinnen. Nicht-Mitgliedern stehen die Türen zu Parteiveranstaltungen zwar inzwischen häufiger offen, doch über ihr Rederecht muss im Gros der Fälle erst abgestimmt werden, und stimmberechtigt sind sie nicht, während sich Nicht-Mitglieder anderswo sogar an der parteiinternen Aufstellung von Kandidaten beteiligen können (man denke an die US-amerikanischen Vorwahlen, dazu Magiera, Die Vorwahlen (primaries) in den Vereinigten Staaten, 1971).
Allerdings wächst vor allem in den großen Parteien CDU und SPD das Bewusstsein dafür, die eigene Basis mehr einbinden zu müssen. Das lässt sich etwa am Mitgliederentscheid der SPD über die Zustimmung zum Koalitionsvertrag (die freilich nicht bindend für den entscheidenden Parteitag war) ablesen, oder an der „Zuhör-Tour“ der CDU-Generalsekretären Annegret Kramp-Karrenbauer. Diese Versuche gehen zweifelsfrei in die richtige Richtung. Ob dies reicht, um wieder mehr Menschen für ein Engagement in politischen Parteien zu gewinnen, wird sich zeigen.
Der Versuch eines Fazits
Was also kann #aufstehen? Dass Menschen grundsätzlich bereit sind, sich zu engagieren und über politische Inhalte zu diskutieren, das zeigt der Zuspruch zu #aufstehen einmal mehr. Vielleicht können die Parteien etwas von neuen Formen innerparteilicher Debattenführung bis hin zur Beteiligung von Nicht-Mitgliedern lernen. Die Bewegung kann vielleicht andere Menschen erreichen als die etablierten Parteien, gerade weil sie keine Partei ist. Sie kann Einfluss auf die Parteien im links-liberalen Spektrum ausüben und ist vielleicht in der Lage, Mehrheiten in diesen Parteien zu schaffen (man denke an die Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei in den USA). Jedenfalls kann #aufstehen eine Plattform für Debatten sein. Die Bewegung wird aber wohl keinen Wandel des politischen Systems der Bundesrepublik auslösen.
Und was kann aus #aufstehen werden? Vielleicht erreicht die Bewegung ihr Ziel und schafft das Fundament für eine rot-rot-grüne Bundesregierung, wenn dies auch angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse unrealistisch erscheint. Vielleicht geht sie aber doch den Weg von „en marche“ und wird selbst zur Partei. Ohne eine Veränderung des demokratischen Leitbilds weg vom Wettbewerbsgedanken hin zu einer stärkeren Gemeinwohlorientierung wird ihr nichts anderes übrigbleiben, möchte sie nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Die Vergangenheit hat zeigt, dass als Gegenentwurf zu den etablierten Parteien angetretene Protestbewegungen früher oder später entweder doch selbst zur klassischen Partei wurden, wie die Grünen, die einst als „Anti-Parteien-Partei“ antraten und nun als etabliertes Mitglied der deutschen Parteienlandschaft sogar den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg stellen. Andere Bewegungen aber – wie die „Schill“-Partei oder die Piraten – sind diesen Weg nicht gegangen und letztlich in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden.
Vielleicht bleibt all dies aber auch aus, weil die Bewegung doch zu wenige Menschen motivieren kann #aufzustehen, weil #sitzenbleiben eben doch bequemer ist …