Komplexität und Normenklarheit – oder: Gesetze sind für Juristen gemacht
in: Der Staat 48 (2009), Heft 1, S. 29-74 (SSRN: English Abstract | Text)
Abstract | Der Beitrag befasst sich mit der Komplexität von Rechtsnormen und dem zu ihrer Bändigung ersonnenen Instrument des deutschen Verfassungsrechts, der Normenklarheit. In einem ersten Schritt wird eine Definition des Begriffs “Komplexität” für positive Normen eingeführt, die durch die Dichte (Anzahl der zu berücksichtigenden Elemente) und Interdependenzen (innerhalb einer und zwischen verschiedenen Normen) konzeptionalisiert wird. Dadurch wird der Schwerpunkt der Überlegungen dieses Beitrages auf die Komplexität der inhaltlichen Regelung gelegt, eine durch die sprachliche Fassung hervorgerufene Komplexität bleibt außer Betracht. Komplexität ist demnach ein kognitives Problem; es handelt sich mithin um eine subjektive Perspektive auf Komplexität, die beim Individuum ansetzt, das den Rechtstext zu verstehen versucht. Die Technizität einer Norm kann die Komplexität für juristisch gebildete Rechtsanwender reduzieren, sie aber zugleich auch für Laien erhöhen. So kann die Rechtsdogmatik auch als Instrumentarium verstanden werden, Kohärenz im Recht zu erhöhen und Komplexität zu vermindern. Das Erfordernis der Normenklarheit ist jedoch kein Mittel zur Reduktion von Komplexität, sondern allein zu deren Kontrolle. Im Beitrag wird dargelegt, dass der Grundsatz der Normenklarheit im Prinzip der Gewaltengliederung gründet, sein Maßstab ist die Vollstreckbarkeit. Entgegen vorherrschender Auffassungen wird daher geschlossen, dass nicht der Normadressat das Gesetz verstehen muss, sondern ein Jurist. Nur dann kann dem Problem rechtlicher Komplexität in gesetzeszentrierten Rechtssystemen angemessen begegnet werden. Die These wird mit theoretischen, verhaltenswissenschaftlichen und rechtsdogmatischen Argumenten gestützt.